Wohnarchitektur in Spanien Mittwoch, 22. Oktober 2003

Für den 450-seitigen Band im Könemann Verlag verfasste ich 2001-02 die Beiträge zu Katalonien, Barcelona, Madrid, Andalusien, Kalabrien und Galizien. Neben Analysen von Ikonen der spanischen Kultur wie Antoní Gaudí umfaßte diese Arbeit auch die Auseinandersetzung mit zentralen Figuren der spanischen Nachkriegs-Moderne, die sich das gestalterische Diktat des Franco-Regimes widersetzten und die Grundlagen für die heutige lebendige Architekturszene des Landes bildeten. Schwerpunkt meiner Tätigkeit bildete zudem die Analyse der regional verschiedenen traditionellen Wohnformen in den weitläufigen Provinzen des Landes.

Erschienen 2003, pdf mit weiteren Texten und Abbildungen (350 kb) hier: Spanien.pdf

 

Textauszug aus:

Die 50er Jahre in Katalonien – Aufbruch in die Moderne

Mit dem Sieg des Francoregimes im spanischen Bürgerkrieg 1939 entstand ein reaktionär geprägtes Spanien, das die in den 20er Jahren angedachten Ansätze einer großstädtischen, progressiven und kosmopolitischen Kultur auszulöschen versuchte. Während das Architekturgeschehen des restlichen Europas nach Beendigung des zweiten Weltkrieges 1945 an die Anfänge der 20er Jahre Architektur der Moderne anknüpfte, wurde dies in Spanien durch die Repression des Regimes jahrelang erschwert.

Doch Anfang der 50er Jahre zeichnete sich das Ende der <k>perioda autarquía<k>, der Periode der Autarkiepolitik, in der Spanien sich vom Ausland isolierte, langsam ab. Von 1933-1945 hatte der Francostaat analog zur Architektur Nazideutschlands einen monumentalen Nationalstil propagiert, der in der spanischen Tradition tief verwurzelt sein sollte und die internationale Moderne bekämpfte. Jetzt, wo das Regime sich gefestigt hatte, stand zunehmend die staatliche Anerkennung des Landes, z.B. durch die Aufnahme in die UNO, im Vordergrund. Somit suchte man nicht nur mit dem Aufbau eines Wirtschaftssystems nach westlichem Muster, sondern auch in der Architektur den Anschluß an internationale Entwicklungen und Standards, nicht zuletzt um das Regime durch den Anschein einer Normalität zu legitimieren.

In den großen Städten des Landes, vor allem in Madrid und Barcelona, griffen die Architekten und Städteplaner auf die fortschrittliche Architektur der 20er Jahre zurück und entwickelten diese weiter. Vor allem in Barcelona bildete sich Ende der 40er Jahre eine Gruppe katalanischer Architekten, die die Scheuklappen der faschistischen Ideologie ablehnten und eine eigene Ausprägung der Moderne entwickelten. Hierbei mag die Randlage innerhalb Spaniens und die Nähe zum restlichen Europa eine gewisse Rolle gespielt haben. Unübersehbar bei vielen Projekten ist der Einfluß des Franzosen Le Corbusiers. Außerdem wurden die Katalanen stark von Architekten Norditaliens wie Alberto Sartoris, der eine mediterran geprägte Architektur als Basis seines modernen Stils entwickelte, oder Ernesto Rogers, Ignazio Gardella und Franco Albini beeinflußt, die jeweils eine moderate Interpretation der Moderne im Nachkriegsitalien verfolgten. Genauso wichtig dabei war aber auch das anscheinend unauslöschbare Selbstbewußtsein der Katalanen, die sich nicht mit der Übernahme europäischer Stilrichtungen begnügten, sondern das Architekturspektrum Nachkriegseuropas durch individuelle Eigenlösungen wesentlich bereichern sollten.

Bedeutende katalanische Architekten der Zeit wie Josep Antoni Coderch oder Josep Maria Sostres, der stets eine kritische Position zur öffentlichen Bautätigkeit seines Landes einnahm, kamen jedoch aus bürgerlichen Familien, die weitgehend den Konservativismus des Regimes teilten1. Auch dies macht deutlich, daß es bei der Erneuerung der Architektur in den 50er Jahren nicht nur um eine architektonische Widerstandsbewegung gegen das Francoregime ging. Vielmehr muß die Entwicklung im Kontext der Normalisierung der Beziehungen Spaniens mit dem Ausland gesehen werden. Für die Architektur bedeutete dies den Einsatz der Architekturmittel der Moderne, die inzwischen weltweit verwandt wurden.

Die gesellschaftlichen Veränderungen und die Neuerungen in der Bautechnik hatten in den 20er Jahren zu einer völlig neuen Architektur geführt, die eine wichtige Basis für das Bauen in den 50er Jahren wurde. Die jahrhundertealten gesellschaftlichen Strukturen, die zu der Vormachtstellung des Bürgertums geführt hatten und um die Jahrhundertwende die kulturelle Blüte des Katalanischen „Modernisme“ eines Antoni Gaudís ermöglichten, waren auf einmal durch die Visionen einer sozial gerechteren Gesellschaftsform überholt. Für die Wohnarchitektur bedeutete dies eine völlige Neuorientierung, da es nunmehr galt, zufriedenstellende hygienische und lebenswerte Wohnverhältnisse für alle Bewohner der Stadt zu gewährleisten. Die engen Lichtschächte, über die viele Wohnungen belichtet bzw. be- und entlüftet wurden, sollten der Vergangenheit angehören.

Zu den veränderten sozialen Werten der 20er Jahre kamen revolutionäre Entwicklungen der Bautechnik hinzu. Neue Materialien wie z.B. Stahlbeton mit den damit verbundenen Möglichkeiten der Raumgestaltung durch größere Spannweiten, industrielle Vorfertigung von Bauelementen weitab der Baustelle oder der Einbau von großen verglasten Flächen brachten neue Möglichkeiten der Raumgestaltung mit sich. Die Jugendstilarchitekten des katalanischen „Modernisme“ waren Wegbereiter der neuen Architektur, indem sie z.B. mit Skelettkonstruktionen aus Metall und mit fließenden Raumkompositionen experimentierten. Themen, die von den Architekten der katalanischen Moderne in den 20er Jahren weiterentwickelt und in den 50er Jahren wieder entdeckt wurden.

Unter Verwendung dieses Gestaltungskanons, jedoch in Kombination mit mediterranen, spanischen und lokalen Traditionen entstand in den 50er Jahren eine spezifisch katalanische Architekturausprägung. Bemerkenswert hierbei ist jedoch die Betonung der spanischen Traditionen und die Ablehnung der rationalistischen Moderne des weltweit homogenen <k>Internationalen Stils<k>. Den theoretischen Hintergrund hierfür lieferte der italienische Architekturtheoretiker Bruno Zevi, der die organische Architektur als die eigentlich ausgereifte und wahrhaftige Moderne ansah. So wurde in Spanien die „kritische“ organische Architektur zur offiziellen Maxime erklärt. Hierbei wurden die antirationalen Ansätze des Amerikaners Frank Lloyd Wright bzw. des Finnen Aalvar Aalto mit der ortsbezogenen Sensibilität der traditionellen spanischen Architektur kombiniert. Dieses organische Ideal beinhaltete jedoch zwei unterschiedliche Sichtweisen zum Verständnis der Architektur, die jedoch beide eine klare Alternative zum <k>Internationalen Stil<k> darstellten2. Die erste Alternative bestand in dem eigentlich antimodernen Ziel der Pflege der Tradition und in der Suche nach einer spezifischen spanischen Kultur. Die andere Alternative zum internationalen Stil bestand in der Bevorzugung italienischer Architektur. Hierbei orientierten sich die Barceloner Architekten nach Mailand während die Madrider ihre Vorbilder in der zeitgenössischen römischen Architektur suchten.

So gesehen wurde die neue Architektur der 50er Jahre vom Spannungsfeld zwischen der kulturellen Rückständigkeit des Regimes und der weltweit verbreiteten Modernisierung der Gesellschaft geprägt. Einerseits genoß Spanien die Kontinuität der Tradition, konnte aber gleichzeitig das Potential einer kritischen Moderne erkunden. Gerade diese Ambiguität zwischen Tradition und Moderne ist es, die den besten Werken der Zeit eine Tiefe verleiht, die in vergleichbaren Bauten anderer Länder fehlte. Somit entstanden wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der Architektur, auch über die Grenzen Spaniens hinaus.

Kennzeichnend für diese Transformation regionaler Bautraditionen zu einer ortsgebundenen Ausprägung der Moderne sind die ersten Projekte von Josep Maria Sostres und José Antonio Coderch. 1946 entwarf Coderch die Casa Ferrer-Vidal in Mallorca im ortstypischen weißgetünchten Stil der Insel. Sostres’ Casa Elias (1948-49) bei Lleida wirkt ebenfalls traditionell spanisch, doch zugleich zeitgenössisch und modern. Bereits 1951 hatte Coderch diesen Ansatz bei der Casa Ugalde in Caldes d Éstrac perfektioniert. Auch hier setzt er ein mediterranes Gestaltungsvokabular ein und fügt das terrassierte Haus zudem auf sensible Weise in die Topografie ein.

Eben diese Einpassung der Architektur in die Topografie stellt eine der wesentlichen Merkmale der spanischen Bautradition dar, die von den Architekten der 50er Jahre weiterentwickelt und transformiert wurde. So wirkten traditionelle Bauten wie z.B. die aus pyranäischem Stein erbauten Bergdörfer des katalanischen Hochlandes oder die aus Feldstein errichteten Masías, die Landsitze der Großbauern, selbstverständlich als Teil der Landschaft. Coderchs Casa Ugalde wurde in einen Hang eingebettet, einige Wände setzten sich im Freien als Stützmauer fort, was die Verbindung von Landschaft und Haus verstärkt. Auch bei Coderchs Casa Rozes (1961) spielte die Berücksichtigung der Topografie eine zentrale Rolle. Er gliederte das wie ein Dorf wirkende Haus in viele Teile. So wirkt die Anlage direkt an der schroffen Felsküste wie ein über Jahre gewachsenes Fischerdorf. Die kleinteilige Gliederung ermöglicht es, präzise auf die unregelmäßige Topografie reagieren zu können. Ein weiteres Beispiel hierfür lieferte Antoni Bonet i Castellana mit der Casa Rubió in Salou bei Tarragona (1959-62). Castellana nutzt die Hanglage des Grundstücks an der Steilküste der Costa Brava, um die Nutzungszonen des Hauses auf zwei Ebenen zu verteilen und die Baumasse einzubetten.

Aufgrund der im Vergleich zum restlichen Europa noch rückständige Baumaterialzulieferindustrie und durch das weitgehende Fehlen der industriellen Voranfertigung von Bauteilen mußten die Architekten der 50er Jahre auf verfügbare Materialien und Bauweisen zurückgreifen. Auch diese Verwendung der lokalen Materialien ist es, die den Bauten eine dem jeweiligen Bauort entsprechende Selbstverständlichkeit verleiht, die sich jedoch nicht mit der Tradition anbiedert, sondern diese kreativ weiterentwickelt. So verwendete z.B. Coderch bei der Casa Ugalde Feldsteine der Umgebung, die in ihrer Struktur sichtbar gelassen, jedoch weiß getüncht wurden und somit an die klaren weißen Geometrien der Moderne erinnern und gleichzeitig orts- und natur bezogen wirken.

Auch beim sozialen Wohnungsbau Habitatges Barceloneta (1951-52) setzte Coderch auf lokale Materialien wie die Keramikverkleidung der Fassaden oder die Holzlamellen der Sonnenschutzelemente, kombinierte sie jedoch auf ungewöhnliche Weise. Anstatt auf bekannte Beispiele zurückzugreifen, schuf Coderch hier eine gänzlich neue Architektur, die das neue Bewußtsein der katalanischen Architekten dokumentierte. War die Horizontalität ein beinah unabdingbarer Bestandteil der Moderne, teilt Coderch die Fassaden in Vertikalstreifen aus keramischen Fliesen und Fensterlamellen auf. Durch einen zu hohen Verglasungsanteil waren viele Bauten der Moderne aufgrund der resultierenden Überhitzung stark in der Nutzung eingeschränkt; Coderch verwendet geschoßhohe Fensterelemente, schützt diese jedoch konsequent mit außen liegenden Sonnenlamellen. Litt moderne Architektur häufig an rasterartiger Geometrie, setzt Coderch durch Einfügung eines leichten Winkels auf eine irrationale Dynamik, wodurch die Wohnräume locker und ungezwungen wirken.

So gewann die katalanische Architektur der 50er Jahre vor allem durch die gelungene lokale Interpretation der organischen Architektur international an Bedeutung, was den Blick der Architekturöffentlichkeit nach Katalonien lenkte. Es entstand ein reger internationaler Gedankenaustausch, dem auch die Katalanen die wichtigsten Elemente der internationalen Moderne entnahmen und diese als Erneuerungen in Katalonien einführten. Hierzu gehören vor allem die Vernetzung von Innen- und Außenraum durch Einsatz der Transparenz und die funktionale Zusammenfassung von Nutzungsbereichen, die in den Baukörpern ihren Ausdruck fanden.

Das Mittel der Transparenz aus unterschiedlichen Gründen eingesetzt. Einerseits ging es um die Gewährleistung einer ausreichenden Beleuchtung bei den dichten, städtischen Grundstücken. Bei Bauten außerhalb der Stadtkerne benutzte man sie, um eine möglichst nahtlose Verbindung von Innenräumen mit der umliegenden Landschaft und somit einen engeren Naturbezug herzustellen. Schon 1949 entwarf Antoni Bonet i Castellana die Casa La Ricarda in El Prat del Llobregat bei Barcelona, bei der die Vernetzung von Innen- und Außenräumen besonders gelungen ist. Das eingeschossige Haus fügt sich in ein unweit des Meers gelegenes Wäldchen ein. Durchgehende Fensterfronten erlauben einen ungehinderten Blick in die Landschaft, so daß fließende Grenzen zwischen Innen und Außen entstehen. Dies wird durch die durchgehenden Tonnen der Dachkonstruktion unterstrichen, die sich im Freien als überdachter Freisitz fortsetzen.

Die Zusammenfassung von Nutzungsbereichen zu klaren Zonen ist ein weiteres verbindendes Merkmal der 50er Jahre Architektur. Damit einher gingen veränderte Wohnformen, die neue Raumaufteilungen erforderten. So nahm z.B. das Wohnzimmer eine immer wichtigere Rolle als Ort der Erholung und der Familie ein. Bei früheren Haustypen wurde der Wohnbereich oft als Durchgangsfläche benutzt. Mit der beginnenden Freizeitgesellschaft entstanden auch die ersten abgeschlossenen Wohnzimmer, die autark genutzt werden konnten. Auch die anderen Nutzungsbereiche wurden zu klaren Grundrißzonen zusammengefaßt. Hier spielten vor allem funktionale Überlegungen eine Rolle. Das Ziel war, sämtliche alltägliche Nutzungen des Hauses optimal zu berücksichtigen. Die unterschiedlichen Nutzungsbereiche sollten voneinander unabhängig genutzt werden können. So trennte man gerne Schlaf- und Wohnbereiche und brachte diese in unterschiedlichen Bauteilen, Ebenen oder Raumzonen unter, um gegenseitige Beeinträchtigungen zu vermeiden. Diese Betonung der Funktion fand nicht nur in der Grundrißdisposition, sondern auch in der Fassadenaufteilung und Baukörpergliederung ihren Ausdruck und bestimmte somit auch das äußere Erscheinungsbild eines Gebäudes.

Ein Beispiel für die hiermit erreichte Gebäudeplastizität lieferte Josep Maria Sostres 1953-55 beim Bau der Casa Agustí in Sitges. Sostres sah die klare Anordnung der Nutzungsbereiche vor, was in der Baukörperanordnung und in den Fassaden zum Ausdruck kam. Der Wohn- bzw. Eßbereich befindet sich im Erdgeschoß des Haupthauses. Im Obergeschoß sind die Schlafräume untergebracht, erschlossen über eine einläufige Treppe, die Sostres gekonnt in der Nordfassade sichtbar gestaltete. Im Winkel zum Haupthaus angeordnet wurde ein Studio mit Bibliothek in einem eingeschossigen Bau untergebracht. Ebenso bei der Casa Moratiel (1955) und der Casa Iranzo (1957) in Esplugues de Llobregat verteilt Sostres die Nutzungsbereiche in klare Zonen und druckt diese bei der Baukörperausbildung aus. Die Verteilung der Nutzungen auf verschiedenen Ebenen war eine weitere Möglichkeit der Funktionstrennung, die z.B. Antoni Bonet i Castellana bei der Casa Rubio einsetzte. Hier befindet sich im oberen Geschoß der Wohnbereich mit angeschlossener Küche und im unteren Geschoß sich der Schlafbereich.

Bis zum Ende des Jahrzehnts hatte sich die katalanische Architektur von der Bedeutungslosigkeit bis an die Vorfront der internationalen Entwicklung entwickelt. Die gewissermaßen als Kritik an der zum reinen Stil verkommenen, technisierten Rationalität der internationalen Moderne entstandenen Beispiele dokumentierten, daß das Potential der modernen Architektur noch lange nicht erschöpft war. Kennzeichnend für das internationale Ansehen der neuen katalanischen Architektur wurde z.B. Josep Antoni Coderchs Mitgliedschaft im „Team X“, eine international besetzte Architektengruppe, die 1959 als Reaktion auf die Entwicklung des einflußreichen CIAM (Congress International de Architecture Moderne) initiiert wurde. Der CIAM hatte weltweit eine rationale, standardisierte Architektur in Kombination mit einem rein funktionalen Städtebau propagiert. Team X arbeitete an einer inklusiveren Auffassung von Architektur, die humane, soziale, regionale und traditionelle Aspekte berücksichtigte. So entwickelten sie die noch lange nicht zu Ende gedachte Moderne fort und legten einen Grundstein für die Erneuerung der Architektur in den 90er Jahren.

 

Erschienen in: Spanien, Wohnarchitektur und Interieurs, Könemann, 2001, s. 100-106

 



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